Was ich am Buch „Der mexikanische Fluch“ geliebt und was ich von ihm fürs Schreiben gelernt habe, fasse ich hier für (angehende) Autor*innen zusammen.
„Der mexikanische Fluch“ von Bestseller-Autorin Silvia Moreno-Garcia: Auf meinem Instagram-Kanal @seitenwende habe ich schon viel von diesem Buch geschwärmt. Die in Mexiko geborene, kanadische Autorin hat mit dem 2020 erschienenen Buch einen Roman vorgelegt, der sich nah am klassischen englischen Schauerroman orientiert – und doch einzigartig ist.
Mexican Gothic verarbeitet klassische Schauerelemente
Das liegt daran, dass viele Elemente der Schauerliteratur Einzug finden, sogar das Setting ein gewissermaßen „englisches“ ist. Doch die Geschichte mit ihren schauerhaften Elementen ist eingebettet einen (post)kolonialen Kontext.
Der Klappentext von „Der mexikanische Fluch“
Mexiko, 1950: Ein verstörender Brief führt die junge Noemí in ein entlegenes Herrenhaus in den mexikanischen Bergen: Dort lebt ihre frisch vermählte Cousine Catalina, die behauptet, ihr Mann würde sie vergiften. Sofort tauscht Noemí die Cocktailpartys der Hauptstadt ein gegen den Nebel des gespenstischen Hochlands. High Place ist der Sitz der englischen Familie Doyle, in die Catalina überstürzt eingeheiratet hat. Doch das Ansehen der Doyles ist längst verblasst und ihr Herrenhaus zu einem dunklen Ort geworden. Gut, dass Noemí keine Angst hat – weder vor Howard Doyle, dem widerwärtigen Patriarchen der Familie, noch vor Catalinas eitlem Ehemann Virgil. Aber als Noemí herausfindet, was auf High Place vor sich geht, ist es zu spät: Sie ist längst in einem Netz aus Gewalt und Wahnsinn gefangen …
Diesen Klappentext zitiere ich von der Verlagswebsite (Limes/Penguin Random House).
Das große Herrenhaus der englischen Familie Doyle liegt nahe ihrer ehemaligen Silbermine in den Bergen bei einem mexikanischen, kleinen Örtchen ohne viel Infrastruktur. Mit dem Betrieb dieser Silbermine wurde die Familie reich, indem sie die Bodenschätze und mexikanische Arbeiter*innen ausbeutete. Der Reichtum ist zum Zeitpunkt der Romanhandlung jedoch verblichen, das Haus und die Familienmitglieder zerfallen. Zum Teil ist das wörtlich zu verstehen.
Wohliges Gruseln mit „Der mexikanische Fluch“ – dank Abstand vom Horror
Was ich besonders geliebt habe, ist, dass mir das Buch neue (Lese-)Welten eröffnet haben. Denn bisher habe ich um Horror- und Schauerliteratur einen Bogen gemacht, weil mich Thriller und Krimis meist noch lange beschäftigten – nicht auf die gute Art. Bei „Mexican Gothic“ war das anders. Ich habe mich noch nie so wohlig gegruselt („deliciously creepy“ nennt Constance Grady auf vox.com das Buch).
Es war ein Vergnügen, mich mit der Hauptfigur Catalina zu fürchten, aber den sicheren Abstand durch die Buchseiten zu wahren. Und jetzt will ich unbedingt weitere Schauerliteratur lesen (und vielleicht auch ein „Gruselbuch“ zu schreiben 😊). Zum Glück ist bald wieder Herbst, da wirkt das noch besser.
Zurück zum Thema: Was mich auf positive Weise beschäftigt, seit ich das Buch beendet habe, ist die Frage: Wovor gruseln wir Menschen uns eigentlich? Und wie kann man das fürs Schreiben nutzen? Was ich in Mexican Gothic darüber gelernt habe, fasse ich im Folgenden zusammen.
Wie man als Autor*in Grusel in einem Roman hervorrufen kann
ACHTUNG: Die folgenden Abschnitte enthalten SPOILER!
CN: Erwähnung von Vergewaltigung
Die folgenden Aspekte habe ich in Mexican Gothic als besonders zentral dafür empfunden, Grusel in Leser*innen auszulösen. Ich bin sicher, es gibt noch viele mehr – ergänzt gerne in den Kommentaren, was euch an diesem Buch aufgefallen ist oder was ihr generell zum „wohligen Gruseln“ braucht!
- Kontrollverlust über den eigenen Körper
Noemí kommt im Herrenhaus der Doyles an und wird sofort mit zahlreichen Regeln überrumpelt. Sie soll sich dem Patriarchen unterwerfen, darf bestimmte Bereiche nicht betreten, mit Catalina nicht ohne Voranmeldung bei ihrer Aufpasserin reden, nicht rauchen … und schon bald wird ihr auch Gewalt angedroht, durchaus subtil.
Der Weg zum und vom Haus durch die Berge ist gefährlich, alle warnen Noemí davor oder verbieten ihr sogar, ihn zurückzulegen. Noemís Bewegungsfreiheit wird durch Regeln eingeschränkt, aber auch dadurch, dass sie nach einer Weile starkes körperliches Unwohlsein empfindet, sobald sie sich zu weit vom Haus entfernt. Das ihr vertraute Umfeld, die ihr persönlich so wichtige Freiheit sind nicht mehr verfügbar.
Das alles erzeugt eine Unsicherheit, die die Leser*innen miterleben: Was passiert, wenn ich mit widersetze? Die neue Umgebung ist Noemí so fremd, dass die innere Logik ihr nicht verständlich ist.
- Keine Verbündeten
Ihre Cousine Catalina ist Noemí keine Hilfe. Deren Verwirrtheit und mangelnde Ansprechbarkeit führt dazu, dass Noemí nicht auf sie zählen kann. Noemí ist damit auf sich allein gestellt, trägt die Bürde, für das Wohlergehen ihrer Cousine verantwortlich zu sein, und hat zugleich scheinbar keine Verbündete im Herrenhaus. Schon gar nicht sind Catalinas Ehemann oder der Patriarch der Familie Verbündete; diese werden auch körperlich bedrohlich. Ob der eine mögliche Verbündete wirklich auf ihrer Seite steht, weiß Noemí erst ganz zum Schluss.
- Bedrohliche Umgebung
Noemís ganze Umgebung fühlt sich wie eine Bedrohung an. Die Wände sind voller Schimmel, die Tapete scheint sich zu bewegen. Es ist viel zu dunkel und labyrinthartig im Haus, um sich zurechtzufinden. Der nebelüberzogene, wirre Friedhof raubt ihr die Orientierung, sobald sie sich dort bewegen will, sie sieht und hört Dinge. Mit vielen dieser Aspekte wird auch das „Übernatürliche“ angerissen, das in der englischen Schauerliteratur eine wichtige Rolle spielt. Auch der „fremde Ort“, Grüfte und Gewölbe – und so fühlt sich das verfallende Herrenhaus an – sind ein typisches Motiv.
- Der Schrecken im Inneren
Zunehmend wird der Horror im Herrenhaus, der sich zunächst im Außen entfaltet, zu einem inneren Schrecken. Verliert Noemí selbst den Verstand? Bewegt sich die Tapete, oder spinnt sie? Träumt sie nur von Catalinas Ehemann Virgil, oder passieren die sexuellen Begegnungen wirklich? Die Angst vor einer Vergewaltigung durch Virgil und zugleich Gefühle der Lust sind durch die nahe, personale Erzählperspektive furchtbar gut nachvollziehbar. Diese Lust löst Angst aus, weil sie einem Kontrollverlust über tief in unserem Inneren entspringende Impulse bedeutet.
- Erklärungsmuster versagen
Was im Herrenhaus der Doyles passiert, entzieht sich zunehmend Noemís Erklärungsvermögen. Sie weiß nicht, wie sie die Dinge, die sie beobachtet – etwa die Langlebigkeit der Doyles, die Porträts der toten Frauen, die Träume/Visionen –, erklären könnte. Am Ende wird aufgelöst, wie es soweit kommen konnte. Doch der Weg dahin ist uneben und führt über viele „Unfassbarkeiten“, die Unsicherheit und Straucheln in der vermeintlichen Realität auslösen.
Wie geht es euch mit Schauerliteratur, mögt ihr sie? Und welche Bücher empfehlt ihr zum Einstieg? Ich kann „Der mexikanische Fluch“ wärmstens empfehlen und hoffe, ich kann es irgendwann noch einmal wie zum ersten Mal lesen. Aber so sehr, wie es mich begeistert hat, vergesse ich die Auflösung wohl kaum.
Ein Buch, das mir in letzter Zeit jedoch nicht so gut gefallen hat, ist „Anatomy. Eine Liebesgeschichte“. Hier könnt ihr nachlesen, wieso.
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